Bauchgefühl vs. Lerntheorie
Wir haben im Umgang mit unseren Hunden oft den Zugang zu unserem Bauchgefühl verloren – oder trauen ihm nicht mehr. In einer Zeit, in der theoretisch alle Informationen jederzeit verfügbar sind, steigt auch der Anspruch, den wir an uns selbst stellen – oder der von außen an uns herangetragen wird.
Doch gerade im Hundetraining ist es wichtig, das eigene Bauchgefühl nicht zu ignorieren. Denn nicht jede Methode passt zu jedem Mensch-Hund-Team. Viele Trainingsansätze basieren auf unterschiedlichen Theorien – vom Behaviorismus über Rudeltheorien bis hin zu kognitiven oder systemischen Ansätzen. Manche konzentrieren sich auf einzelne, isolierte Verhaltensweisen, andere versuchen, den Menschen zum „Leitwolf“ zu machen.
Bei Kindern stimmt meistens das Bauchgefühl:
Frage dich bei Tipps und Ratschlägen zur Hundeerziehung und Training: Würde ich das auch bei einem kleinen Kind machen?
Hunde sind keine Kinder, aber:
Wenn deine Antwort Nein lautet, solltest du dreimal hinterfragen, warum dies beim Hund oder speziell bei deinem Hund das Richtige ist.
Beispiel 1: Aufgeregte Begrüßung ignorieren
Ein häufiger Tipp lautet: „Wenn der Hund dich aufgeregt begrüßt, ignoriere ihn, bis er ruhig ist.“
Doch würden wir das auch mit einem Kind tun, das uns freudig entgegenläuft? Wahrscheinlich nicht. Die meisten Menschen begrüßen ihr Kind kurz, geben ihm Orientierung – und begleiten es dann zur Ruhe.
Warum? Weil die aufgeregte Begrüßung Ausdruck einer Trennungsreaktion ist – ein Zeichen von Unsicherheit: Ist noch alles wie vorher? Bist du wirklich wieder da? In solchen Momenten stellen wir Beziehung vor Erziehung.
Studien zeigen: Hunde, die in dieser Situation ignoriert werden, wirken äußerlich ruhig, sind aber innerlich gestresst. Hunde, die kurz begrüßt und dann zur Ruhe begleitet werden, zeigen hingegen äußerlich und innerlich Entspannung.
Der Tipp, unerwünschtes Verhalten zu ignorieren, stammt aus der behavioristischen Lerntheorie. Innerhalb dieses Modells ist das logisch – denn es berücksichtigt nur sichtbares Verhalten. Alles, was nicht beobachtbar ist (Gefühle, Erwartungen, Bindung), wird als „Blackbox“ ausgeklammert.
Beispiel 2: Im Wald verstecken, wenn der Hund nicht aufpasst
Ein weiterer Tipp lautet: „Wenn der Hund im Wald nicht auf dich achtet, verstecke dich hinter einem Baum.“
Würden wir das mit einem Kind machen, das gerade abgelenkt ist? Wohl kaum. Das Kind würde sich erschrecken, vielleicht sogar Angst bekommen – und das Vertrauen zu uns verlieren. Doch genau dieses Vertrauen ist die Grundlage jeder stabilen Beziehung.
Bei Hunden hingegen wird ein solches Verhalten oft als Zeichen „guter Bindung“ interpretiert – wenn der Hund uns plötzlich nicht mehr aus den Augen lässt. Doch in Wahrheit ist es häufig ein Ausdruck von Verunsicherung.
Solche Methoden stammen vermutlich aus dem Bereich des klassischen Gebrauchshundetrainings – etwa bei Schäferhunden, die auf enge Führung gezüchtet wurden. Bei Jagdhunden oder Tierschutzhunden kann das Gegenteil passieren: Sie nutzen die „freie Zeit“ lieber sinnvoll für sich.
Beispiel 3: Begrüßung nach Rangordnung
Ein weiterer verbreiteter Tipp: „Wenn du nach Hause kommst, begrüße zuerst alle Familienmitglieder – und den Hund erst zum Schluss.“
Diese Idee stammt aus der Dominanztheorie, die davon ausgeht, dass Hunde in festen Rangordnungen leben und der Mensch sich als „Alphatier“ behaupten muss. Doch diese Theorie ist wissenschaftlich längst überholt. Sie basiert auf veralteten Wolfsbeobachtungen in Gefangenschaft, die nicht auf das Sozialverhalten von Haushunden übertragbar sind.
Moderne Verhaltensforschung zeigt: Hunde leben nicht in starren Hierarchien, sondern in flexiblen, beziehungsorientierten Strukturen. Sie orientieren sich an Verlässlichkeit, Klarheit und emotionaler Sicherheit – nicht an Dominanzgesten.
Fazit: Bauchgefühl und Wissen gehören zusammen
Ein gutes Hundetraining braucht mehr als Theorie. Es braucht Verständnis, Empathie und die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen. Unser Bauchgefühl ist ein wertvoller Kompass – besonders dann, wenn es mit fundiertem Wissen kombiniert wird.
Denn: Nicht jede Methode passt zu jedem Hund. Die Persönlichkeit, Rasse, Herkunft und Erfahrungen des Hundes – all das beeinflusst, wie er lernt, fühlt und reagiert. Und wir haben es immer mit einem fühlenden, denkenden Individuum zu tun.